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III: Eisenbahnbau im Zeichen des Kreuzes – Der erste „Netz-Gedanke“ der Welt, welcher durch einen Staat planmäßig umgesetzt wurde(1834-1843).

1830, das „Jahr der Revolution“, also die „Trennung vom Niederländischen Mutterland“ war durchaus ereignisreich:

Nach dem gerade erst im August in der Brüsseler Oper getätigten Ruf „Vive la Liberté“(s.o.) kam es schon im September 1830 zum echten Guerilla-Kampf gegen die „Niederländischen Feind-Truppen“, welcher Ende Oktober mit dem Sieg der Belgier endete.

Die Großmächte ließen das „Modell Belgien“ auf der Londoner Konferenz(1830) schließlich grundsätzlich durchgehen.

Verkehrsgeschichtlich ist interessant, dass schon damals die „Freie Schiffahrt vom Hafen Antwerpen aus durch die Wester-Schelde“(!) ein gewichtiges Thema war. 1831 soll Belgien den „Londoner Vertrag“ unterzeichnen. Die Niederlande aber verhielten sich noch zögerlich.

Im Laufe der Zeit soll schließlich aus dieser „Freiheit der Schiffahrt“ keine „Absolute Freiheit“, sondern nur eine „Relative Freiheit“ werden. Jeder ernsthafte politische Analyst hatte dies so vorausgesehen. Auf jeden Fall aber rechnete man schon ab 1831 mit einer grundsätzlich „Freien Fahrt“ durch die Schelde.(8)

Im „Niederländisch-belgischen Endvertrag“ von 1839 wurde die Schelde nun definitiv zum „niederländischen Gewässer“ und es kam zur Einführung des legendären „Schelde-Zolls“. Dies bedeutete die Entrichtung von 1,50 Gulden pro Tonne für jedes Schiff nach Antwerpen hinein. Erst 1863 konnte Belgien dieses Joch der „Relativen Freiheit“ abschütteln.(9)

Schon mit dem „Londoner Vertrag“(1831) war Leopold I. v.Sachsen-Coburg der (konstitutionelle) König von Belgien geworden.

Der wirtschaftliche Zustand des neuen Staates unmittelbar nach der Revolution war durchaus bedenklich. Das Land war übersät mit Arbeitslosen. Hier ein paar Zahlen zum wirtschaftlichen System:

a)     Im Seehafen Antwerpen waren 1829 noch 1028 Schiffe eingelaufen, 1831 verringerte sich deren Zahl auf 398, ging also um mehr als die Hälfte zurück.

b)    In Gent, der bedeutendsten Industriestadt, ging die Baumwollverarbeitung von 7,5 Millionen Kilogramm(1829) auf 2 Millionen(1832) und damit ebenfalls um mehr als die Hälfte zurück.

Gent, St.Nicolaikirche:

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Die These bei Weißenbruch, dass das Land damals auch durch die feindlich gestimmten Niederlande verkehrsmäßig bedrückt gewesen wäre, ist jedoch nicht nachvollziehbar.(s. Karte m. Kommentar) Er schreibt:

„Im Jahre 1830, als Belgien mitten in der Bewegung stand, die seine Trennung von Holland herbeiführte, bildeten die Wasserwege, die, Holland durchquerend, die Gebiete der Schelde, der Maas und des Rheines miteinander vereinigten, die wichtigsten Verkehrsmittel. Die politischen Ereignisse, die Belgien und Holland entzweiten, bildeten eine drohende Gefahr für die freie Benützung jener Flüsse, und ist es daher begreiflich, dass die Handels- und Industriewelt Belgiens ihr Bestreben darauf richtete, sich durch den Bau einer Eisenbahn von den Wasserwegen unabhängig zu machen“(10).

Von den Niederlanden bedrückt? Grundstrukturen des Wasserwege-Systems in Belgien 1830/31:

Copyright: Elmar Oberegger

A: Mit einer Sperre der Scheldemündung durch die Niederlande rechnete niemand, die Frage des freien Schiffsverkehrs von und nach Antwerpen war also im Prinzip geregelt. Und im Falle einer Sperre der Schelde hätte Antwerpen auch eine „Eisenbahn“ nichts genützt. B: Der Wasserweg von Brüssel bis zum Seehafen Oostende existierte. Der niederländische Nachbar hatte darauf gar keinen Einfluss. C: Über die Maas wurden – ebenso abseits von Holland – Brüssel und Lüttich verbunden. D: Ein Problem stellte in der Tat die Verbindung Brüssel-Rhein dar. Doch auch dieses stand nicht direkt mit Holland in Verbindung; es existierte in regionaler Hinsicht schon vorher. Eine Verkürzung des Weges zum Rhein war so oder so ein Gebot der modernen Zeit.

Dass sich eine „Grundlegende Modernisierung der Verkehrs-Struktur“ für die Zukunft auf jeden Fall positiv auswirken würde, das war in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Und unter der Ägide von König Leopold I. startete man vor diesem Hintergrund sodann ein vom Staat selbst(!) getragenes „Aufbau-Programm“, welches auch der „Nations-Bildung“(= „Wir, die Belgier“!) dienen sollte.

Franz Anton von Gerstner schreibt 1839 zur nationalen Bedeutung des Projektes:

„Belgien, seit 1815 mit Holland vereinigt, zeichnete sich in Europa durch seine schönen Strassen und herrlichen Canäle aus; die letztern waren in dem flachen Lande meistens ohne Schleusen angelegt, und dienten nicht blos zum Gütertransporte, sondern auch zur Beförderung von Reisenden, vorzüglich der untern Volksklasse, die hier in grösserer Zahl, als in irgend einem andern Lande der Welt, die Canal-Boote benutzte. Wer würde es daher ge­wagt haben, Eisenbahnen in Opposition und in paralleler Richtung mit so vollkommenen Canälen und Landstrassen anzulegen. Belgien hatte sich im Jahre 1830 von Holland getrennt, und wählte durch die Repräsentanten der Nation einen eigenen Herrscher. König Leopold I. halte bald begriffen, dass das Land zu seiner vollen Beruhigung der <<Arbeit>>, bedürfe; eine Reihe weiser Gesetze munterte die Nation zu nützlichen und fruchtbringenden Unternehmungen auf, und Jedermann, der Talent und Lust hatte, fand Arbeit und Erwerb in dem Lande, welches, von allen seinen Nachbarn abgeschnitten, nur auf sich selbst reduzirt war. Um aber die öffentliche Meinung zu gewinnen, bedurfte die neue Regierung eines grossen Nationalwerkes(Hervorhebung d. Verf.), welches die Nachwelt noch mit Bewunderung zu erfüllen vermag. Die Zeiten der ägyptischen Pyra­miden, der römischen Triumphbögen und der französischen Kriegsmonumente waren vorbei; es sollte ein nützliches Denkmal(Hervorhebung d.Verf.), ein Denkmal des Friedens und der Aufklärung, an die für Belgien so verhängnissvollen Jahre erinnern“(11).

In historischer Hinsicht ist es nun in der Tat in höchstem Maß erstaunlich, dass man im Falle dieses „Bauprogrammes“ nicht – so die traditionelle Sicht – eine einzige Eisenbahn-Linie im Auge hatte(z.B. Budweiserbahn, Fürtherbahn), sondern gleich ein „Netz“, welches kreuzförmig war. Gerstner bemerkt dazu allgemein:

„Die Eisenbahnen, welche bisher in England und auf dem Continente von Europa, ausgeführt oder projectirt wurden, haben durchaus nur den Zweck, zwei wichtige Punkte eines Landes mit einander zu verbinden; bei ihrer Anlage ist daher immer nur ein untergeordnetes Local-Interesse berücksichtiget … Das Publikum in Europa ist beinahe durchaus der Meinung, dass nur kleinere Bahnstrecken, vorzüglich zwischen volkreichen Städten, sich verzinsen, dass aber Zweige einer Eisenbahn, welche in ferne minder volkreiche Gegenden gehen, sich nicht zu rentiren im Stande sind“(12).

Es ist übrigens gar nicht von der Hand zu weisen, dass es auch im „Deutschen Bund“ sehr früh bedeutende „Netz-Pläne“ gab(List, Grote; s. Karten). Doch diese konnten eben nicht „Vom Staat“ umgesetzt werden, da der „Deutsche Bund“ nun einmal kein „Staat“ war.

Plan für ein „Deutsches Eisenbahnnetz“(List 1833):

Copyright: Elmar Oberegger

Plan für ein „Deutsches Eisenbahnnetz“(Grote 1834):

Copyright: Elmar Oberegger

Auch an den frühen Netzplan Riepls für Österreich, welcher 1836 sodann zu seiner Endfassung gelangte, müssen wir hier erinnern.(s. Karte)

Plan für ein „Österreichisches Eisenbahnnetz“(Riepl 1836):

 

Copyright: Elmar Oberegger

Niemand empfand sich aber damals als stark genug, einen solchen Plan umzusetzen – vor allem der „Staat“ nicht!

In Belgien, da traf jedoch historisch beides zusammen:

a)     Die „Staatliche Einheit“ und

b)    Die „Netz-Idee“.

Doch nicht völlig automatisch und reibungslos fügte sich zunächst „Das Eine“(a) in „Das Andere“(b).

Schon im Oktober 1830 war die Eisenbahnfrage grundsätzlich aktuell geworden, 1832 wurde sodann nur ein Plan für eine Strecke Antwerpen-Lüttich(-Köln/Rhein) vorgelegt(13), der Staat hielt sich darüberhinaus noch als Financier fern. Dasselbe galt aufgrund der für unsicher gehaltenen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auch für die Privatiers.

Dennoch wurde damals(19. Juli 1832) das „Erste belgische Konzessionsgesetz für Privatbahnen“ verlautbart.

Im Frühsommer 1833 jedoch kam es bereits zur Vorlage des „Großen Staatlichen Netzplanes“. Von Mecheln sollten folgende Linien ausgehen(s. Karte):

a)     Mecheln-Seehafen Antwerpen.

b)    Mecheln-Brüssel-Mons-Frz.Grenze.

c)     Mecheln-Brüssel-Oostende.

d)    Mecheln-Lüttich-Dt.Grenze.

Das „Belgische Kreuz“ - Der Eisenbahnplan von 1834(umgesetzt bis 1843):

Copyright: Elmar Oberegger

 „Dass die Eisenbahnen als grosse Heerstrassen zu betrachten seien, dass sie in einem ganzen Lande die Hauptcommunicationen bilden können, dass sie daher mit Mitteln, welche nur einer ganzen Nation zu Gebote stehen, ausgeführt werden sollen, hat bis zum Jahre 1834 Niemand in Europa behauptet, und noch jetzt wird diess von einflussreichen Personen bezweifelt und verneint“(Gerstner 1839).

Die politischen Verhandlungen begannen sodann am 11.März 1834, schon am 1.Mai d.J. konnte König Leopold I. das „Große Eisenbahn-Programm“ sanktionieren, am 4.Mai d.J. wurde schließlich die Öffentlichkeit über den „Moniteur Belge“ darüber informiert. Und schon ging diese Nachricht auch in die übrige Welt.

König Leopold I.(1790-1865):

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Geb. 1790 in Coburg/Durch Heirat relativ jung Oberst in der Russ. Armee/Kampf gegen Napoleon/Seit 1814 in England/Teilnahme am „Wiener Kongress“(1815), dort ideell von Metternich beeinflusst/1830 Ablehnung der griech. Krone/Ab 21. Juli 1831 „König der Belgier“/Gest. 1865 in Laaken.

Möglicherweise ist die historisch legendär gewordene „Eisenbahn-Faszination“ des niederländischen Königs Wilhelm I. nur auf ein „(Kindliches) Konkurrenz-Denken“ gegenüber dem abtrünnigen Nachbarkönig im Süden zurückzuführen. Eine Eisenbahn-Entwicklung wie in Belgien vermissen wir in den Niederlanden jedoch.(14)

Gerstner schreibt 1839 rückblickend zum „Belgischen Eisenbahnplan“:     

„Mit Staunen vernahm man in dem übrigen Europa die Kunde von dem Riesenwerke, welches ein, von den nordischen Souverains noch nicht anerkannter, junger Staat mit blos 4 Millionen Seelen zu unter­nehmen beabsichtigte, und nur wenige konnten die grossen Resultate begreifen, welche dieses Riesenprojekt, wenn es ausgeführt wird, für die Selbständigkeit der Nation, für ihre innere Vereinigung und für ihren Handel und ihre Industrie haben werde. Das erstere war der Hauptzweck des grossen Projectes, die Beförderung des Handels und der Industrie der Nebenzweck, obgleich die Mehrzahl, nur dem Materiellen huldigend, das zweite als den Hauptzweck ansah. König Leopold fand in dem damaligen Minister der öffentlichen Arbeiten, Herrn De Theux, und seinem Nachfolger, Herrn Nothomb, eine kräftige Stütze; die Ingenieurs wetteiferten, das Werk möglichst zu befördern, und in 4 Jahren wurde bei weitem mehr geleistet, als man früher erwartete. Der aufgeklärte Minister Nothomb erstattete jährlich den Kammern Berichte, und liess nebstbei andere specielle Berichte über den Fortgang der Bahnen drucken, in welchen das europäische Publikum eine reichhaltige Quelle von Erfahrungen findet, die man vergebens in irgend einem andern Berichte oder Werke sucht; Europa muss daher dem Könige, welcher der erste eine so grossartige Idee zur Ausführung brachte, es muss seinem aufgeklärten Minister, welcher das Werk so zweckmässig leitete, und alle dabei gemachten Erfahrungen mit der grössten Liberalität veröffentlichte, aufrichtigen und grossen Dank zollen“(15).

Minister Jean-Babtiste v.Nothomb(1805-1881):

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Geb.1805 in Messancy(Lux)/Studium der Jurisprudenz in Lüttich/Widerstandskämpfer gegen die Niederländische Herrschaft/Am „Londoner Vertrag“ direkt beteiligt/1837 Minister für öff. Bauten, Marine und Miliz, in dieser Eigenschaft Vorkämpfer des Eisenbahnwesens seines Heimatlandes/Zuletzt Gesandter in Berlin, gest. ebendort 1881.

Im Jahr 1837 wurde übrigens auch noch der staatliche Bau von „Ergänzungslinien“ beschlossen. Diese waren:

a)     Gent(= Linie Brüssel-Oostende, s/w Abzweig)-Courtrai-Mouscron-Frz.Grenze incl. Zweigbahn Mouscron-Tournai. Damit wurde also v.a. die bedeutende Stadt Gent direkt mit Frankreich in Verbindung gebracht.

b)    Braine-le-Compte(= Linie Brüssel-Mons-Frz.Grenze, s/ö Abzweig)-Charleroi-Namur.  

c)     Landen(= Linie Brüssel-Lüttich, nördl. Abzweig)-St.Trond.

Die Umsetzung des „Belgischen Kreuzes“ samt Ergänzungslinien dauerte bis in die 1840er Jahre hinein. Das Kreuz selbst war 1843 vollendet – Letzte Streckeneröffnung: Lüttich-Herbesthal Grenze(„Wesertalbahn“), dem Verkehr übergeben am 15.Oktober d.J.