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EXKURS:
„WIE DIE SPINNE IM NETZ“ – DER EISENBAHNHISTORIKER DR.PETER
STAUDACHER UND DAS ÖFFENTLICHE VERKEHRSSYSTEM DER SCHWEIZ. EIN
INTERVIEW(2011)
OBEREGGER: Lieber Peter, wir kennen uns schon
seit Mitte der 1990er Jahre, konkret aus Deiner Salzburger Vorlesung
"Verkehrsgeschichte Österreichs". Seither sind wir noch immer in Kontakt.
Was ist inzwischen aus dem Eisenbahnhistoriker Dr.Peter Staudacher geworden?
STAUDACHER: Vorerst einmal freue ich mich sehr, dass wir uns nach langer
Zeit mal wieder treffen und Du mich zu diesem Interview eingeladen hast. Ich
war dann noch eine Zeit Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte und habe
dann 1997/98 ein Masters Studium in Europäischer Integration an der
University of Limerick in Irland gemacht. Ich hatte den Entschluss gefasst,
mich beruflich neu zu orientieren und wollte mich zu diesem Zweck
bildungsmässig etwas erweitern, vor allem in wirtschaftlichen und
rechtlichen Belangen, nicht zuletzt aber auch im Bereich der internationalen
Politik. Nach dem Studium folgte ein Engagement bei der Caritas Österreich
in Albanien (1999). Damals gab es in Albanien tausende Flüchtlinge aus dem
Kosovo und ich war als Delegierter der Caritas ein Teil im internationalen
Netz der Hilfswerke, die Flüchtlingslager betreuten, Essen verteilten und
medizinische Versorgung sicherstellten. Dabei lernte ich erstmals in einer
wirklich fremden Kultur zu leben, die Menschen und ihre speziellen Anliegen
zu respektieren und die eigenen Wertekataloge unserer westeuropäischen
Kultur etwas zu hinterfragen. Damals war man übrigens vom ganzen
Islam/Abendland-Diskurs (gottseidank) noch nicht so beeinflusst. Nach
Albanien folgten fast 5 Jahre im Kosovo, für die Caritas Schweiz, zwei Jahre
davon als Delegationsleiter. Eine sehr spannende Aufgabe, Koordination von
Projekten, Personalführung, aber auch fast diplomatische Aufgaben, wenn z.
B. mit der UN oder anderen Hilfswerken zu verhandeln war. Weiter ging es
dann in den Iran, wo ich auch meine Frau kennenlernte, dann nach Südostasien
im Zusammenhang mit der Tsunamihilfe und schliesslich über ein kurzes
Engagement in Wien bei Caritas Österreich an die Geschäftsstelle der Caritas
Schweiz in Luzern, wo ich seit 2007 Programmverantwortlicher für die
Republik Moldau und Tschetschenien bin. Seit einigen Monate stehe ich im
Ehrenamt dem Caritas Schweiz Personalverband vor, in Österreich würde man so
etwas einen Betriebsrat nennen – Du siehst: vieles ist geschehen, hat sich
ergeben und alles ist im Fluss. Ich bin verheiratet, wir haben zwei Buben (6
und 4 Jahre) und erwarten im November unser drittes Kind. Wir leben in der
Luzerner Gemeinde Kriens, an der Endstation der Trolleybuslinie 1, direkt
unter dem Pilatus, auf den ja die steilste Zahnradbahn der Welt führt.
OBEREGGER: Fühlst Du Dich noch als Eisenbahnhistoriker?
STAUDACHER: Ganz ehrlich gesagt nur noch am receiving end, sieht
man von gelegentlichen Ausführungen im Freundes- und Bekanntenkreis ab, die
ich mir nicht verkneifen kann, wenn das Gespräch auf Geschichte und Bahnen
kommt. Dann erzähle ich aber gerne auch mal über die Schweizer Bahnen, sehr
zum Staunen der Umsitzenden, dass ein Österreicher da etwas zu sagen hat.
Nein, ich lese zwar gerne darüber, schaue mir Filme zur
Bahngeschichte an, lese Deine Website oder lese Spuren der
Bahngeschichte an zugemauerten Tunnelportalen mitten in der Stadt
Luzern, aber ein echter Bahnhistoriker, der forscht und publiziert bin ich
(leider) nicht mehr.
OBEREGGER: Du lebst nun also in der Schweiz. Was sagst Du
grundsätzlich zum dortigen öffentlichen Netz? Wie ist es aufgebaut?
STAUDACHER:
Grundsätzlich scheint das schweizerische ÖV-Netz das Paradebeispiel für ein
durchdachtes, bedarfsgerechtes Netz zu sein, das dem heutigen
Mobilitätsbedürfnis des kleinen 7-Millionen Landes mit der halben Fläche
Österreichs ideal entspricht. Dabei ist es genauso wie andere Netze in
Europa aus wirtschaftlichen und politischen Erwägungen, teilweise auch aus
militärstrategischen entstanden, und ist historisch betrachtet gar nicht so
speziell. Das besondere dabei ist wohl, dass es seit den 70er Jahren des
letzten Jahrhunderts nicht kleinweise reduziert, sondern seine Kapazitäten
im Gegenteil erhalten und vielfach sogar ausgebaut und optimiert wurden.
Dazu kamen dann noch Besonderheiten wie die flächendeckende frühe
Elektrifizierung ab den 1930er Jahren. Obwohl, das würde ich nicht
überbewerten, denn Elektrifizierung schützt vor Einstellung nicht, dass lässt
sich an vielen Orten belegen. Ausschlaggebend ist vielmehr der politische
Wille, eine nationales, regionales und lokales Netz öffentlicher
Verkehrsmittel zu erhalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln, durchaus, um
ökonomischen Mehrwert zu erzielen.
Das Netz teilt sich in mehr oder weniger vier
Strukturebenen. Drei davon sind die Bahnen, eine die Buslinien.
Das Hauptnetz sind die Durchmesserlinien von Ost nach West bzw. Nord
nach Süd mit den Zulaufstrecken. Im Nord-Süd-Verkehr erfüllt die Schweiz ja
auch noch eine wichtige Transitfunktion via Gotthard und Lötschberg. Auf
diesen Linien verkehren die Züge mindestens im Stundentakt, dazwischen
Regionale S-Bahnen. Daneben wird übrigens auch ein umfänglicher Güterverkehr
abgewickelt, der auch schweizbezogen relevant ist. Die meisten Güter rollen
übrigens nachts, unter Tags sind die meisten Strecken mit dem
Personenverkehr voll ausgelastet. Die Hauptstrecken laufen von St. Gallen
über Zürich nach Bern, Lausanne und weiter nach Genf. Es gibt noch parallel
dazu eine Linie am Jurasüdfuss über Neuchatel/Neuenburg, die von Neigezügen
befahren wird. Zwischen den Agglomeration verkehren Doppelstock-Interregios,
wie z.B. Zürich-Luzern, mittlerweile im Halbstundentakt, und das sieben
Tage die Woche von ca. 05 00 bis 01 00. Weiters die Hauptstrecken nach
Italien, Gotthard und Lötschberg/Simplon, bald beide mit langen Basistunnels
zu Hochleistungsarterien aufgewertet. Hier zeigt die Schweiz vor, was
technisch, aber vor allem politisch möglich ist und setzt konsequent um.
Die zweite Strukturebene sind
die zahlreichen Verbindungsbahnen zwischen Zentren, aber auch mittelgrossen
Orten, Talschaften, Regionen, die durch Interregiozüge verbunden sind, und
die Mobilität vieler PendlerInnen sicherstellen, aber auch für Rundfahrten,
Geschäft und von Touristen genutzt werden. So kann ich von Luzern nach Genf
effizient über Bern mit dem Intercity reisen, oder aber mit der Familie den
Tag via Brünigbahn und MOB nach Montreux verbummeln und dort erst nach Genf
weiterreisen, ob mit Bahn oder Schiff bleibt mir überlassen. Ganz speziell
ist auch die Fahrt mit dem Interregio durch das Entlebuch, das westliche
Luzerner Hinterland, wo im letzten Krieg der Schweiz, im Sonderbundkrieg von
1847, Luzerner und Eidgenössische Truppen aneinandergerieten. Wer Zeit hat,
sollte zwischen Bern und Luzern einmal durchs Entlebuch kurven,
wo die ehemaligen Swiss-Express Garnituren verkehren, allerdings mit
deaktivierter Neigetechnik unter dem Emblem der BLS.
Als dritte Ebene würde ich die vielen
Lokalbahnen ansprechen, die die Feinverteilung übernehmen, einige von ihnen
zählen auch zu den Highlights des Schweiz Tourismus, wie die rhätische Bahn
ins Unterengadin oder die Luzern-Engelberg-Bahn.
Die vierte Ebene ist dass das Postauto und die
zahlreichen lokalen Buslinien, die noch immer so oft verkehren, dass
Ausflüge zumeist locker ohne Auto zu bewältigen sind.
Der Nutzende des schweizerischen Bahnnetzes
fühlt sich wirklich wie eine Spinne im Netz und kann sich mal behaglich
langsam im Netz ausrichten und bewegen, aber auch schnell sprinten, wenn ein
Termin im Nacken sitzt.
Ja klar, dann gibt es noch die
hunderten Bergbahnen, die wohl noch zusätzlich die Mobilität in der dritten
Dimension gewährleisten, wenn diese gewagte Metapher erlaubt sei.
OBEREGGER: Also konkret verläuft das wochentags
wie? Wie kommst Du zur Arbeit? Wie kommt Deine Frau zur Arbeit? Wie kommen
Deine Kinder in die Schule?
STAUDACHER: Um in die Arbeit zu gelangen nehme ich die Busse der
Trolleybuslinie 1 der VBL (Verkehrsbetriebe Luzern). Diese fahren alle 5
Minuten. Da braucht man also gar keinen Fahrplan – Auch an Sonn- und
Feiertagen verkehren die Busse im 10 Minuten-Takt – und das bis 01 Uhr
morgens. Auch wenn ich einmal spät vom Flughafen Zürich kommen, brauche ich
kein Taxi. Unser Auto nutzen wir selten, aber manchmal ist es doch
praktisch, ein eigenes Fahrzeug zu haben, vor allem, wenn es etwas zu
transportieren gibt. Meine Frau benutzt den Bus auch häufig, die Kinder
gehen gleich bei uns im Quartier in die Schule bzw. in den Kindergarten, da
braucht es gar keinen Transport.
Staudacher &. Söhne:
Copyright: Dr.Peter Staudacher
Dr.Peter STAUDACHER wurde am 9. April 1965 in Villach
geboren. Im Zuge seines historischen Studiums an der Paris
Lodron-Universität Salzburg beschäftigte er sich zunächst mit
Eisenbahnarchäologie, später mit der Bildquellenkunde der Eisenbahn. Nach
Vollendung seiner Dissertation war er von 1991 bis 1995 Assistent bei
Prof.Georg Schmid. Gemeinsam mit Hans Lindenbaum publizierten beide 1994 den
Band "Bewegung und Beharrung". Von 1999 bis 2007 war Dr.Staudacher in der
internationalen humanitären Hilfe tätig(Balkan, Mittlerer Osten,
Südostasien). Seit Ende 2007 ist er Programmverantwortlicher bei der Caritas
Schweiz für Moldawien und Tschetschenien.
Publikationen: Eisenbahngeschichtliche Beiträge für den Raum
Kärnten und Slowenien. Ein Versuch. Dipl.Arb. Salzburg 1987,
Bewegungsmomente. Eine Geschichte der österreichischen Transporttechnik
unter Berücksichtigung ihrer bildlichen Manifestation. Diss. Salzburg 1990.,
Bewegung und Beharrung. Transport und Transportsysteme in Österreich
1918-1938. Eisenbahn, Automobil, Tramway.(Mitarb.) Wien 1994., Die
Geschichte des Verkehrswesens seit 1860. In: 1300 Jahre Seekirchen. Hrsg. v.
Elisabeth und Heinz Dopsch. Seekirchen 1996., Die Murtalbahn. Eine kurze
Geschichte einer österreichischen Schmalspurbahn. In: Reisen im Lungau.
Salzburg 1998, Eine Geschichte der schweizerischen Eisenbahnen auf CD-Rom. (Mitarb.)
Wien/Innsbruck 1998.
OBEREGGER: Ihr seid besser und billiger unterwegs als die
Autofahrer?
STAUDACHER: In der Schweiz ist das so. Ein eigenes Auto haben
dennoch viele, aber es wird im Durchschnitt weit weniger genutzt, als zum
Beispiel in Österreich. Die Jahreslaufleistung liegt in der Schweiz bei ca.
10'000 km, in Österreich bei 15'000 km, so viel ich weiss.
Mit einem Generalabonnement, eine Jahresnetzkarte für die meisten
Verkehrsmittel (Zug, Bus, Schiff) kommt man günstig weg: Gerade 3'300
Schweizer Franken kosten das GA für die 2. Klasse und ermöglicht ein Jahr
lang uneingeschränkte Mobilität. Wer dieses nicht besitzt hat in den meisten
Fällen das Halbtax-Abonnement, für Fahrten zum halben Preis, das kosten
gerade 150 Franken im Jahr. Stressfreier ist man in jedem Fall unterwegs,
nutzt man den ÖV. Es gibt aber Zeiten am Tag, wo sowohl auf der Strasse als
auch in den Zügen Stau und Überfüllung herrschen und selbst die erste Klasse
bis auf den letzten Sitzplatz belegt ist. Da wird einem klar, dass unser
Mobilitätsanspruch (auf Schiene und Strasse) an seine Grenzen stösst.
Ehrlich gesagt finde ich, dass es nicht nur Vorteile hat, sind die
Verkehrssysteme zu gut in Schuss. Allzuleicht machen wir den Fehler, den
24-Stunden eines Tages zu viel abverlangen zu wollen, wenn wir z. B. in
Luzern wohnen, in Bern arbeiten und dann noch in Zürich an ein Sommerfest
wollen, nur weil wir dadurch um Mitternacht wieder in Luzern sein können. Am
nächsten Tag sitzen wir dann wieder im vollen Pendler-IC nach Bern, ab
Luzern 07 00.
Generell ist Zugfahren in der Schweiz aber eine
sehr gute Sache: Pünktlich, effizient und doch noch preiswert.
OBEREGGER: Und am Wochenende? Nützt ihr da auch das öffentliche
Netz? Wohin führen Eure Ausflüge?
STAUDACHER: Ich gehe gern Wandern. Mein Lieblingsgebiet ist das
westliche Hinterland von Luzern, das Pilatusgebiet. Abgesehen vom Gipfel des
Pilatus, auf den gleich zwei Bahnen führen, ist das Bergland westlich des
Pilatus sehr ursprünglich geblieben. Wegen der guten Erschliessung der Täler
links und rechts des Bergrückens mit Bahnen und Buslinien, sind
Überschreitungen , Almwanderungen und spontane Abstiege ins Tal (wenn das
Wetter schlecht wird) einfach, denn es ist möglich von jedem Dörflein aus
innerhalb einer Stunde zurückzufahren. Manchmal fahren wir den Kindern aber
auch nach Zürich oder Basel in den Zoo, mit einer Seilbahn auf einen Berg
oder mit den Raddampfern eine Runde auf dem Vierwaldstättersee. Ehrlich
gesagt, es gibt noch so viele Destinationen, die wir noch nie besucht haben,
es gibt einfach sehr viele Möglichkeiten...
OBEREGGER: Was sagst Du zum System in Österreich? Tut Dir da als
"Villacher Eisenbahnerbub" manchmal das Herz weh?
STAUDACHER: Klar, in Österreich
ist das öffentliche Verkehrsnetz nicht vergleichbar. Dennoch muss ich sagen,
dass es noch um vieles besser ist, als in einigen anderen EU-Ländern.
Was mich in Österreich stört, ist der Umstand, dass ohne eigenen PKW
so gut wie nichts geht. Meine Eltern wohnen in der Stadt Villach, aber der
Regionalbus verkehrt nur drei mal täglich von ihrer Gegend in das
Stadtviertel. An Sonntagen gar nicht. Da wird dann öffentlicher Verkehr zur
Farce. Schlecht finde ich auch die Schnellbuslinie von Graz nach Klagenfurt,
wo die ÖBB ihre eigenen Züge konkurrenzieren oder die IC-Busse von Villach
nach Venedig, die (leider) aufgrund administrativer Probleme zwischen ÖBB
und FS (Trenitalia) zustande kamen.
Recht gut gefällt mir die Aufwertung der Bahnhöfe in Österreich, das
bedeutet Verbesserung gegenüber früher, z. B. Innsbruck, Klagenfurt, Linz,
Graz etc. Auch der Railjet ist okay, zumindest besser als die alten
Eurofima-Reko-Wagen, die eigentlich aus den Siebziger Jahren stammen.
Schade ist wiederum das Ende der
Regionalverbindungen, z. B. Innsbruck-Graz oder auch Graz-Linz, wie ich
mitbekommen habe. Die Lokalbahnen hat es ja vielfach schon früher erwischt.
Manchmal habe ich aber auch den Eindruck, dass es in Österreich keine Lobby
für die Bahn gibt, so ist ja keine nennenswerte Fahrzeugindustrie mehr
vorhanden. In der Schweiz gibt es den Stadler-Fahrzeugbau, der mit
Nischenprodukten (S-Bahn-Garnituren) Erfolge feiert: günstige
Serientriebwagen für die allerorts aufblühenden S-Bahnen. Ob nun Stadler den
S-Bahn-Boom antreibt oder umgekehrt, ist wie Henne und Ei – eigentlich egal,
aber es gibt das Phänomen. Für die Zürcher S-Bahn wird Stadler demnächst
Doppelstockzüge liefern und ist damit bei der echt grossen Bahn dabei,
spannend. So etwas gibt es in Österreich leider nicht in der Dimension. Ja
und dann eben auch nicht die öffentliche Identifikation mit den Bahnen.
Obwohl sicher nicht der sprichwörtliche Generaldirektor mit dem Zug zur
Arbeit fährt, aber Bundesräten (Minister) im Intercity im Erstklasswagen
kann man schon begegnen. So konnte ich selbst einmal Evelyn-Widmer Schlumpf
(Innenministerin) beim Aussteigen aus einem IC am Zürcher Flughafen sehen.
Regierung in der Eisenbahn ist seit einer Werbefahrt von Alfred Gusenbauer
und seinem Kabinett nach Linz 2007 wohl Geschichte in Österreich.
OBEREGGER: Wie kommt es, dass so viele
verschiedene Transportsysteme(Eisenbahn, Seilbahn, Bus) miteinander
kooperieren? Interessant ist ja, dass viele Privatbahnen am Verbund
beteiligt sind. Bei Privatbahn, da denkt man ja zunächst immer an
"Egoismus". Fußt diese Kooperation auf einem Gesetz? Oder weiß man in der
Schweiz einfach nur, dass auch mittels Kooperation "Gewinn" zu machen ist?
In Österreich funktioniert ja nicht einmal die Kooperation zwischen Zug und
Bus!
STAUDACHER: Stark vereinfacht ausgedrückt, bezahlen in der Schweiz
Bund, Kantone, Gemeinden für die Leistung der
Verkehrsträger, das heisst der Bahnen und Busse. Diese Leistungsaufträge
sind so ausgelegt, dass sie das Defizit, das aus dem Betrieb wegen der
erbrachten Leistungen entsteht, abdecken. Fernstrecken werden
eigenwirtschaftlich geführt, im Regionalverkehr zahlen Bund, Kantone und
Gemeinden den SBB aber auch den anderen Bahnen und Busgesellschaften.
Übrigens ist das nicht gewinnbringend, aber es existiert in der Schweiz ein
politischer Wille, den gesellschaftlichen Nutzen des Systems (auch
Umweltnutzen und die wirtschaftliche Umwegrentabilität) höher einzuschätzen
als den rein finanziellen Abgang. Zudem arbeiten die Verkehrsgesellschaften
so effizient und erbringen die Leistungen in einer solchen Qualität, dass
kaum jemand dieses System in Frage stellt. Immerhin bezuschusst der Bund die
SBB 2011 und 2012 mit vertraglich gesicherten rund 3,3 Milliarden
Schweizerfranken (ca. 3 Mrd. EUR), darin sind aber auch Kosten für neue
Fahrzeuge und Streckenmodernisierungen enthalten, so viel ich weiss. Mit dem
Geld und den erwirtschafteten Leistungen muss dann aber auch das Auslangen
gefunden werden. Da gibt es dann keinen Spielraum mehr, wenn es nicht reicht
– es klappt aber, wie wir sehen.
Ich denke, dass in Österreich die Diskussion um
die Bundesbahnen noch immer zu parteipolitisch läuft und dass das
öffentliche Interesse nicht immer in vollster Seriosität vertreten wird, was
ein wenig schade ist. Zudem kommt auch eine aus meiner Sicht suboptimale
Koordination zwischen den Verkehrsmitteln und auch politische
Partikularinteressen, z. B einzelner Bundesländer – irgendwie der berühmte
Kantönligeist, den es eigentlich in der Schweiz gar nicht wirklich gibt,
aber ein wenig in Österreich ;-).
OBEREGGER: Bitte noch um eine Einschätzung -
Also mir kommt es fast so vor, als ob man in der Schweiz im Bereich des
öffentlichen Verkehrs ein "kommunistisches System" aufgezogen hätte. Das
gefällt mir! Und das in einem Land, welches sich zu 100% zum Kapitalismus
bekennt! Das gefällt mir noch mehr! Wie war das möglich? Ist man in der
Schweiz realistischer, praktischer oder einfach geschäftstüchtiger, auch in
Bezug auf die Volkswirtschaft?
STAUDACHER: Leider muss ich Dich enttäuschen. Die Schweiz ist ganz
und gar nicht kollektiviert, zumindest nicht in der Wirtschaft. Der
Schlüssel liegt wohl im Pragmatismus und in der hohen Produktivität, die das
schweizerische Gesellschafts- und Wirtschaftsleben prägen. Es gibt eine ganz
schlanke bürokratische Struktur und die Arbeitszeit wird allerorts optimal
zu nützen gesucht. Da es kaum Leerläufe gibt, verkehren die Züge auch
häufiger als anderswo und natürlich gibt es rein faktisch eine längere
Wochenarbeitszeit, die hochgerechnet, die Produktivität erhöht. Zudem haben
die Mitarbeitenden oft noch Zusatzaufgaben im Betrieb, die andernorts andere
(oder heute niemand mehr macht). So übergibt jede/r CH-Lokführer/in der/m
Kollegen/in einen sauberen Führerstand und wischt noch mit Putzwolle beim
Verlassen der Lok die Aufstiegsstangen, dass der/die nächste sich nicht die
Hände ölig macht. Das findet man oft in der Schweiz, die kleinen
zusätzlichen Tätigkeiten, die ausgeführt werden, weil es gerade noch 5 oder
3 Minuten hat, bis der Dienst aus ist – kurz: ein hohes Arbeitsethos in
allen Bereichen. Da ist man dann versucht, das Bild einer geschäftigen
Werktätigenschar zu sehen, die unermüdlich zum Wohle der Gesellschaft emsig
werkt. In Wahrheit wird weniger geredet und mehr getan, das merkt man auch
bei den Bahnen.
Geschäftstüchtig ist die Schweiz, aber in einem
leistungsorientierten Sinn. Zeit wird genutzt, immer darauf achtend, dass
dies auch optimal geschieht. Also: Verbesserung von Abläufen, Nachjustieren
von Prozessen, Optimieren von Synergien. Dabei gibt es aber durchaus auch
den gemütlichen Teil: das Ausspannen, die Pause. Aber eben erst dann, wenn
man wirklich müde ist und schon ein Stück weiter ist.
Ich muss aber auch sagen, dass die Effizienz
auch stressen kann. Rechne nie mit einer Abgangsverspätung, Du wirst den Zug
versäumen und auch BusfahrerInnen sind gnadenlos. Auch wenn Du noch am
Automaten auf das Ticket wartest fährt er/sie pünktlich los. Na ja, der
nächste Bus kommt in 5 Minuten...
OBEREGGER: Glaubst Du, dass es in Österreich jemals so ein Taktnetz
wie in der Schweiz geben wird? So unter dem Titel "Austrotakt 21"...
STAUDACHER: Eigentlich nicht, vielleicht in Vorarlberg ;-) Nein, im
Ernst, wir sind in Österreich zu nah dran am Autofahren und es bedürfte
eines grossen Schubes in Richtung soziale Akzeptanz des ÖV, dass bei uns ÖV
diejenige soziale Akzeptanz erreichen würde wie in Schweiz.
Aber ich denke, dass die Qualität der Bahnen sich im Fernverkehr
steigern wird (müssen) und dass auch in den Agglomerationen das Angebot
besser wird – die Salzburger S-Bahn ist da ja ein Beispiel.
Wenn wir so weit kommen, dass die Leute zwischen Wien und Salzburg –
Innsbruck und Bregenz wirklich mehrheitlich Zug fahren bzw. auch zwischen
Klagenfurt und Wien die Bahn das erste Verkehrsmittel wird, fände ich das
schön. Im übrigen muss ich aber auch sagen, dass ich kein uneingeschränkter
Fan der Mobilität bin, auch nicht, wenn sie ÖV-gestützt ist. Ich finde, dass
unser heutiger Lebensstil manchmal zuviel Mobilität und Flexibilität
erfordert, die uns auf die Nerven gehen kann und manchmal auch eine Zumutung
darstellt, wenn wir z. B. täglich 4 Stunden für das Pendeln aufwenden, Zeit
die uns für Entspannung, Familie, Kinder oder das Hobby fehlt.
OBEREGGER: Ich danke für das Gespräch!
STAUDACHER: Danke auch!
Copyright: Elmar Oberegger/Peter Staudacher 2011. |