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DER KARST NÖRDLICH VON TRIEST

 

Die Steinwelt des Karstes trennt die Schönheit der Alpen von der Schönheit des Meeres: jenseits seiner Hochfläche taucht das blaue Meer auf und glänzt ein milderer Himmel.

Meeresahnung liegt über dem Karst; wenn im Spätherbste düsteres Nebelgewölke auf ihm lagert, so wird man in südlicher Richtung immer einen helleren Streifen erblicken; das ist der Widerschein des Meeres. Wird das Meer mit seinen mannigfaltigen Erscheinungen einem Epos verglichen, so kann das Karstland als der steinerne Prolog dazu gelten.

Trasse der Eisenbahn Görz-Triest vor Villa Opicina(Opcine) in Richtung Adriaküste:

Copyright: Elmar Oberegger

Der Karst in seiner Allgemeinheit ist nicht die Ödnis, welche sein Name für viele bedeutet, und dort wo er sein graues Gesicht zeigt auch nicht so einförmig und uninteressant, als manche glauben. Er ist vielmehr, um mit Heinrich Noe zu reden, ein Gebiet voll Schönheit und ungewöhnlicher Dinge.

Seine berüchtigten Steinwüsten, zerrissen und vielgestaltig mit weißleuchtenden Furchen und Spalten, Geröll und Trümmerwerk, sind im Frühling mit den herrlichsten Blüten geschmückt; zahlreiche Liliengewächse, der wohlriechende Berg-Saturei, Melissen- und Zitronenkräuter, der duftende Melilotus und eine Fülle von Heckenrosen umsprossen das graue Gestein. Es blühen die Mahalebkirschen, deren weiße Blütentrauben über den Felsboden hin Weichselduft verbreiten, die Kronwicke, die vielen Spiräen, Primeln und die Orchisblumen, die goldgelben Sterne der tommasinischen Potentilla, die roten Karstnelken u.a.

„An den schwarzen Toren, welche da und dort in die Unterwelt hinabführen, gedeihen die hohen Wedelstiele des Zungenfarnes und die blauen Glockenblumen; viele Kelche des Frühlings halten sich dort im feuchten Aushauch der Erdnacht bis in den heißen Sommer hinein“.

Dem düfte- und blütenreichen Karstfrühling folgt allerdings der trockene und oft wochenlange regenlose Sommer, wo alles verdorrt und die Vegetation so grau wird wie das Gestein.

Der Karst liegt nämlich im Gebiete der Äquinoktialregen, hat einen langen Sommer und einen kurzen Winter, der, ausgenommen die Borazeiten, milde verläuft: Frühling und Spätherbst sind regenreich, dagegen der Sommer oft von versengender Dürre; doch leidet die Vegetation weit mehr noch durch die Borastürme als durch die Sommerdürre. Die Hochflächen des Karstes sind die Heimat der Bora, des furchtbaren Nordoststurmes, der Bahnzüge zur Entgleisung bringt und den Schnee zu Riesenbergen anweht.

Zweierlei Winde wechseln während des Winters in der Herrschaft ab, der warme Schirokkowind von Süden her und die kälteren binnenländischen Nord-, Nordost- und Nordwestwinde. Der Wechsel ist außerordentlich empfindlich; der Schirokkowind bringt laue feuchte Luft, wenn aber plötzlich vom Lande her jene Winde einsetzen, die Kälte mit Trockenheit verbinden, fühlt man sich mit einem Male um mehrere hundert Kilometer weiter landeinwärts nach Norden versetzt.

Sein eigentümliches landschaftliches Gepräge erhält der Karst durch den Rudistenkalk der Kreideformation, dessen nahezu ungeschichtete Masse von den Gewässern in großartigen Dolinen, Höhlen und unterirdischen Flußläufen ausgewaschen wurden und so zu den großartigen Erosionserscheinungen geführt haben, welche wir dort bewundern.

Die auffälligsten Erscheinungen des Karstlandes sind die zahllosen Vertiefungen, welche man Dolinen nennt; sie haben die verschiedensten Größen, ihre Tiefen schwanken zwischen 2 und 100m, ihre Durchmesser zwischen 10 und 1000m; sie treten gruppenförmig auf und oft so dicht gedrängt, daß 40 bis 50 auf den Quadratkilometer gezählt werden können und das Terrain wie blattersteppig erscheint.

„Diese Karsttrichter halten die Feuchtigkeit länger zurück als die offene Oberfläche, auf welcher Wind und Sonnenstrahlen ungehindert walten. Da die Bora der rauhen Jahreszeit in die Trichter nicht hinabdringt, so können sie auch als Wintergärten der Bewohner dieses seltsamen Stückes Welt gelten. Indem nun einerseits die Sommerblumen länger aushalten, so findet man anderseits im Jänner mitunter noch frische Blumen aus der vorhergegangenen Herbstzeit“.

Aus der Feuchtigkeit der Dolinengründe läßt sich auch noch eine andere seltsam anmutende Erscheinung erklären; in schönen Sommernächten kann man nämlich häufig derartige Dolinen bis zum Rande glatt mit Nebel erfüllt erblicken, so daß man einen kleinen Teich vor sich zu erblicken meint. Viele Dolinen sind durch Einstürze von Höhlen entstanden, die das durch die Klüfte des Gesteins zirkulierende Wasser durch Auflösung sich geschaffen hat; derartige Dolinen sind tiefer eingesenkt und schachtartig; häufig deuten sie in ihrer linearen Anordnung den Verlauf unterirdischer Wasserläufe an und bilden dann in ihrer Gesamtheit ein eigenartiges unvollkommenes, oberflächliches Tal, das sich zwar nach einer Richtung senkt, aber in seinem Verlaufe immer wieder durch die Scheidewände der einzelnen Trichter gestört wird.

Durch solche dolinenbildende Einstürze sind am istrisch-krainischen Karst oft Häuser mit allen seinen Bewohnern plötzlich versunken und „an manchen Stellen gehen“, wie ein Bericht Pilars aus der ehemaligen kroatischen Militärgrenze mitteilt, „derartige Veränderungen so rasch von statten, daß mancher Grenzerjüngling, der nach einigen Dezennien sein Vaterland wiedersah, wohl sagen konnte, es sei durch Neubildung von Trichtern gar nicht mehr zu erkennen gewesen. Häuser mußten infolge von Erdstürzen verlassen werden, Obstgärten, die bestanden hatten, waren nicht mehr und neue Saumwege waren gebahnt, da die früheren unwegsam geworden“.

„In Wirklichkeit“, sagt Neumayr, „sind es nicht so sehr Einstürze als vielmehr Wirkungen der oberflächlichen Erosion, die unter den bestandenen Verhältnissen der Karstgebiete die echten Dolinen hervorrufen. Durch den Wechsel von Erwärmung und Abkühlung und durch teklonische Vorgänge bilden sich im Kalkstein zahllose vertikale und horizontale Klüfte und Fugen, die von dem ungehindert einsickerndem Wasser durch Auflösung des Kalksteines zur Röhre umgewandelt und immer mehr erweitert werden; die Fugen werden zu einem Schlund, der das Oberflächenwasser aufnimmt und durch die abspielende, chemische und mechanische Tätigkeit des in den Schlund ablaufenden Wassers wird schließlich die Trichterform der Dolinen ausgebildet“.

Auf dem Grunde mancher Dolinen befinden sich Öffnungen, durch die man in die unterirdischen Höhlenräume gelangen kann. Reisende, die mit der Eisenbahn durchs Karstland dahinfahren, denken wohl nur selten daran, welch riesenhafte Hohlräume sich etwa auch unter der Bahnstrecke dehnen und wie stark oder schwach sich die Decke wölbt, welche den eilenden Zug vom turmtiefen Abgrunde trennt.

Bei den Tunnelbauten im Karstgebiete hat sich gezeigt, daß die ganze Gegend auf den Felsenpfeilern unterirdischer Hallen und Dome ruht, und daß es unter der Erde mannigfaltiger aussieht wie auf der Oberfläche.

Mutter Natur bietet nicht allein auf den Höhen, sondern auch in den Tiefen der Erde den Menschen Schätze von Schönheit dar. Und – seltsam – gerade dort, wo der Landschaftscharakter einen so öden Ausdruck zeigt, daß man jeden bedauern möchte, der diese Gegend Heimat zu nennen gezwungen ist, hat die Natur herrliche Schöpfungen in ewiger Nacht verborgen.

Wenige Meter Felsendecke nur trennen die vom grellen Lichte der Südlandssonne bestrahlten Karstpflanzen von jenen Gebilden der Unterwelt, „deren Kristallflächen dann den ersten Lichtstrahl zurückwerfen, wenn ihnen der entdeckende Mensch mit seiner Fackel naht“.

Der Karst gehört dort, wo er dem an diesen Namen gehefteten Begriffe entspricht, zweifelsohne zu den trostlosesten Landschaftsbildern des Erdballes, aber dem einförmigen Bilde der oberirdischen Landschaft steht die höchste Mannigfaltigkeit und eine märchenhafte Vielheit der Erscheinungen im unterirdischen Karste gegenüber.

Die Höhlen der Karstregion sind durch Auslaugung gebildete unterirdische Flußläufe, echte Erosionstäler, deren Talwände sich über dem Flusse in der Höhe wieder zusammenschließen und ihn überwölben; wenn der Wasserlauf, welcher die Grotte ausgehöhlt hat, sich andere Bahnen eröffnet, bleibt die Höhle trocken zurück und dann bildet sich daselbst in unmeßbaren Zeiträumen, unterirdischen versteinerten Wäldern gleich, die geheimnisvolle Welt der Tropfsteine aus.

Die Höhlungen haben seit Menschengedenken Gelehrte und Ungelehrte beschäftigt und interessiert; für die einen waren sie Objekte der Forschung und Motive für kühne Hypothesen, für die andern Gebiete des Schreckens, des Aberglaubens und der Sage.

Die erste und älteste Anschauung über die Beschaffenheit des Erdinnern entstand unter dem Einflusse der Karstnatur Griechenlands. Plato dachte sich die Erde von großen Hohlräumen und Schachten, von Kanälen, Röhren und Adern durchzogen, durch die Ströme von flüssigem Feuer, von Schlamm, Luft und Wasser ruhelos umbergetrieben werden: das Wasser sickert von der Oberfläche aus nach abwärts und stürzt nach der Tiefe, kann aber den Mittelpunkt nicht überwinden, sondern wird in kriechende Schlangenwindungen gelenkt oder wieder zur Oberfläche emporgetrieben, um Flüsse und Meere zu speisen.

Auch Aristoteles dachte sich das Innere der Erde von Poren und Höhlen durchzogen, in welchen die Ausdünstungen der Erde ebenso wie im oberirdischen Gebiete sowohl Wasser und Winde, wie das eigene Feuer der Erde zu erzeugen vermögen; trockene Dünste bilden die Metalle, feuchte die unschmelzbaren Steine. Aristoteles glaubte auch, daß die Luftströmungen, die in den großen Hohlräumen des Erdinnern sich bewegten, unter Umständen den Erdboden aufzutreiben und Berge zu bilden vermöchten.

Die österreichischen Karstländer haben in den letzten Jahren nicht nur zahlreiche Bewunderer der unterirdischen Welt, sondern auch enthusiastische Lobredner ihrer originellen Landschaften und fremdartigen Natur gefunden; insbesondere Heinrich Noe, der feine Kenner landschaftlicher Schönheit, hat den Karst hoch gepriesen und ihn, der bisher nur ein Durchzugsland gewesen, als Reiseland der Zukunft für die Deutschen bezeichnet.

Vielleicht ist die Zeit nicht mehr ferne, in welcher die armen Bewohner des Karstes im Fremdenverkehr Ersatz für die mangelnde Fruchtbarkeit des Bodens erhalten und in der sich für viele von ihnen die Tropfsteine, bildlich gesprochen, in Brot verwandeln werden.

In den letzten Jahrzehnten ist auch in der Landschaft vieles anders geworden und manches Schönpflästerchen(Werk der Karstaufforstung) unterbricht diese und jene graue oder graugrüne Felsfläche: schon sieht man viele meist aus Schwarzföhren zusammengesetzte Baumgärten, deren Entwicklung und Anzahl von Jahr zu Jahr zunimmt.

Allmählich mildert sich der Fluch, der über diese Gegenden ausgesprochen zu sein scheint; selbst das Walten der Natur führt den Karst besseren, wenn auch noch ziemlich fernen Tagen entgegen, denn auch die Verkarstung ist nur ein vorübergehender Zustand; wie Mojsisovics hervorhebt, wird endlich die unterirdische Wasserzirkulation und Erosion durch allmähliche Abtragung der Decke wieder in eine oberflächliche übergehen, aber kaum wird dieser Zustand eintreten, ehe das ganze Kalkgebirge denudiert und seine Unterlage bloßgelegt ist. Wir können z.B. mit Bestimmtheit annehmen, daß das schwäbisch-fränkische Juraplateau viel ausgedehnter war und vor langen Zeiträumen als eine mäßig verkarstete Tafel nach Norden und Nordwesten über das Unterland übergriff; im Laufe der Zeit wurde durch Erosion der Kalke der Plateaurand immer weiter zurückgeschoben, und wo vorher kalkige Hochfläche war, dehnen sich jetzt die üppig fruchtbare Niederung und das Hügelland aus.

 

Copyright: Josef Rabl 1906.(Aus: „Illustrierter Führer auf der Tauernbahn und ihren Zugangslinien“, Wien/Leipzig 1906, S. 248 ff. Orig. Titel: „Der Karst“)