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TRANSPORTGESCHICHTE Die materiellen Grundlagen der Mobilität |
Sa fumée noire fut le signe même du Progrès. Au travers du train, i’Occident s’identifia à son symbole. (Marc Ferro) |
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Im Verlaufe einer technikgeschichtlichen Diskussion wurde im Rahmen des deutschen Historikertages in Freiburg/Breisgau (1967) die Frage aufgeworfen, was es zuerst gegeben habe: den Aufzug oder das Hochhaus - eine in dieser Form reichlich unsinnige Frage. In ähnlicher Weise könnte man fragen, ob es zuerst die großen Städte oder die Tramways gegeben haben müsse. Die Problematik ist weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Von den Historikern lange Zeit, im Grunde bis heute, ignoriert, von den Eisenbahnfans zumeist auf bloße Begeisterung (etwa für Dampflokomotiven) reduziert, ist die Umwälzung von Verkehrswesen und -technik, zumal in ihren Auswirkungen auf Lebensweisen und -anschauungen und kollektive Mentalitäten, dem Verständnis des Historikers durchaus entzogen. Gewiß: es gibt eine Reihe passabler Eisenbahngeschichten, und vor allem eine unüberschaubare Menge von Büchern für sogenannte Liebhaber des Sujets. Aber bei letzteren fehlt fast immer die kritische Dimension - es dominiert die naive Perspektive der Spielzeugeisenbahn-Mentalität. Bei ersteren verkommt die Darstellung oft genug, meist bei bemerkenswerter Ignoranz in technikgeschichtlichen Details, zu verklärenden Bildern großer Eisenbahn-Erbauer oder "railway tycoons", in den günstigsten Fällen zu trockenen Darlegungen der reinen Bau- und eventuell Betriebsgeschichte mit ihren finanzgeschichtlichen Grundlagen. In beiden Fällen ist dergestalt trister Reduktionismus zu beklagen. Noch kläglicher ist die Literaturlage in bezug auf den Stadtverkehr, der offensichtlich als gleichermaßen selbstverständlich und banal betrachtet wird - eine Sache nur für Verkehrsplaner, Nutzfahrzeughersteller oder Ingenieure für Elektrotechnik. (Erst in jüngster Zeit zeichnet sich hier eine Änderung ab, indem Bürgerinitiativen, allerdings meist unter Außerachtlassung historischer Dimensionen, besseren öffentlichen Verkehr fordern.) Die Diskrepanz zwischen geschichtlicher und gegenwärtiger Komplexität der Verkehrssysteme einerseits und den trivial-reduktionischen Darstellungsformen andererseits tritt hier noch deutlicher zutage; während die Eisenbahn immerhin da und dort schon eine gewisse Respektabilität haben mag, bisweilen sogar einen gewissen wissenschaftlichen Anwert, trifft dies auf Straßen- und Untergrundbahnen, auf Auto- oder Trolleybusse in keiner Weise zu. Aber zumal ohne Straßenbahnen wären unsere heutigen Großstädte - zumindest in dieser Form - nie zustandegekommen; und es liegt zwar inzwischen selbst für den unreflektierten Blick auf der Hand, daß ein modernes industrielles System ohne Eisenbahnen unmöglich gewesen wäre, während zum anderen der Verkehrsaspekt der Urbanisierung fast durchwegs negiert wird. Neue Denkansätze und -formen der letzten Jahre, Resultat meist strukturalistischer Betrachtungsweisen und vor allem in der französischen Spielart der Gesellschafts- und Humanwissenschaften verankert, integrative, synthetische und synoptische Anschauungsweisen also, legten zunehmend nahe, daß es auch und gerade hier um außergewöhnlich komplexe N e t z e gehe (und die Beziehungen dieser Netze zueinander), um E n s e m b l e s v o n R e l a t i o n e n (wir werden an praktischen Beispielen sehen, was man sich darunter vorzustellen hat), um k o m p l i z i e r t e M a s c h i n e r i e n von technischen, sozialen, kulturellen, finanziellen (etc.) Zusammenhängen. An wenig anderen Beispielen hat sich das Versagen der narrativ-deskriptiv-referierenden historischen Methode so schlagend und eindrucksvoll erwiesen wie hinsichtlich der Transportgeschichte. Diese Methoden vermögen nichts weiter - und darin haben sie durchaus ihre Funktion -, als eine solide empirische Basis für explizierende Aussagen abzugeben, die, unter unausgesetztem Rekurs auf einen generellen theoretischen Aussagerahmen, schließlich vergangene wie gegenwärtige Praxis in all ihren Zusammenhängen, Bedingtheiten und Weiterungen begreifbar machen. Das Wissen, selbst die genauesten Kenntnisse, über ein Tramwaysystem vermögen nichts - Selbstzweck in Form eines kuriosen Hobbys, repräsentiert es die klassische Form isolierter Pseudoinformation. Aber das komparative Gegenüberstellen verschiedener öffentlicher Transportsysteme vermag, im Profil und gleichsam historisch-panoramatisch, bereits Teilaussagen zum Urbanisierungsproblem zuzulassen; vollends das Mit- und Zusammendenken weiterer Bezüge (Wohnungswesen, Zugänglichkeit des kulturellen Sektors, Fahrzeiten, Personalsituation, Finanz- und Firmeninteressen, kommunalpolitische Aspekte etc., etc.) eröffnen gute Chancen historischer Erkenntnis. Nicht ohne Zufall ist hier das Schlüsselwort N e t z . Es ist gleichzeitig konkret (z.B. Eisenbahnnetz der österreichisch-ungarischen Monarchie, Tramwaynetz der Stadt Wien) und Metapher (Beziehungen, Verbindungen, Verknüpfungen - im Raum und in der Zeit -, mit einem Wort: R e l a t i o n e n). An Eisen- und Straßenbahnen lassen sich Struktur (Netz, Linie, Route, Strecke) und Funktion (Transportieren, Verbinden, Ortsveränderung in der Zeit) mit seltener Klarheit anhand der täglichen Praxis und bis hin zu Theoriebildungen der Welterfahrung darlegen. Im Netz bin ich "par conséquent, à ma discrétion, ici et ailleurs, sur le même et sur l’autre, je suis ad libitum, et dedans et dehors, immobile et en mouvement, pas encore parti et, déjà, à demi, parvenu." (1) Das Denken der Netze wird in hervorragender Weise in einer Nummer der Zeitschrift T r a v e r s e s verdeutlicht (2), in der u.a. auch der Historiker Marc Ferro zu Wort kommt und in der die Rede ist von jenen berühmten sowjetischen Propagandazügen, die ab 1918 ambulant die revolutionären Parolen quer durch Rußland fuhren - die Revolution ist die Lokomotive der Weltgeschichte, es leben ihre Maschinisten! Diskurs der Züge - es gibt fraglos auch eine Semiotik der Eisenbahn (3), am deutlichsten sichtbar in den Bahnhöfen, die zu den Repräsentativgebäuden par excellence der Epoche der Industrialisierung in ihren verschiedensten Phasen wurden (4); nicht ohne Grund kann man eine Industrialisierung auch von Raum und Zeit konstatieren. So nennt Wolfgang Schivelbusch im Untertitel sein Buch über die "Geschichte der Eisenbahnreise" (5). Es ist eine für die Historiker bittere und wenig schmeichelhafte Ironie, daß eine der brillantesten historischen Studien - das eben genannte Buch - nicht von einem Historiker stammt und zudem in einer anthropologischen Reihe erschienen ist (6). In der Tat geht Schivelbuschs Schrift weit über die Felder des traditionellen historischen Kanons hinaus, und es ist, wie stets in solchen Fällen, zu fürchten, daß das Buch nicht zuletzt aus diesem Grund - bis dato wenigstens ist es von Historikern kaum rezipiert worden - nicht die Aufmerksamkeit finden wird, die ihm zukäme. Die Popularität - und hinfort Überzeugungskraft - eines Buches ergibt sich ja primär aus seiner Konzentration auf einen Aspekt, aus einer gleichsam unilateralen Argumentationsstruktur. Das Gegenteil ist bei Schivelbusch der Fall, der über das industrialisierte Bewußtsein ebenso schreibt wie über den Bahnhof, über Neurosen und Unfallängste ebenso wie über die maschinelle Entwicklung, über "Eisenbahnraum und Eisenbahnzeit" und den neuen Blick, der auf das "panoramatische Reisen" zurückgeht, wie eben über das maschinelle Ensemble: dieses Stichwort markiert eindringlich, daß die Geschichte der Eisenbahnen nur dann sinnvoll (= verständlich) geschrieben werden kann, wenn man sich bewußt ist, welche Faktoren zusammenwirken, und dieses Bewußtsein in adäquater Form umsetzt in die entsprechende Studie. Schivelbusch wird dieser Zusammenhänge gewahr; die Wörter, die aus dem Metaphernfeld Maschine/Maschinerie resultieren, beweisen es (Zusammenwirken einer großen Zahl von Einzelelementen gemäß einer durchdachten Systematik). Das Anliegen dieses Buchs - in spröde-elegantem, konzisem Stil geschrieben - ist offenkundig Beschreibung und Erklärung der objektiven Veränderungen der Wahrnehmbarkeit von Welt durch die neuen Transportmethoden. Haupt- und Untertitel indizieren klar genug eine Beschränkung auf jene Bereiche (die allerdings sämtlich überblickt und in faszinierender Weise integriert werden), die für jenen Einschnitt im Bewußtsein des menschlichen Kollektivs, im Verarbeiten von Eindrücken wesentlich erscheinen. Wie sich die E r l e b b a r k e i t der Welt durch die Eisenbahn verändert: das zu zeigen, stellt sich immer wieder als zentraler Bezugspunkt von Schivelbuschs Essay dar. An einer Stelle heißt es, die Eisenbahn inszeniere eine neue Landschaft (7). In der Tat: es ändert sich nicht nur der Blick (die soziokulturellen und psychischen Voraussetzungen der Wahrnehmungsmuster), sondern, folgerichtig, in gewisser Weise auch das Erblickbare, sohin das Erblickte. Es ergeben sich völlig neue Einstellungen des Menschen zu seiner Natur und zu seiner (intellektuellen, vor allem aber materiellen) Kultur. Es kommt ein neues System der Relationen der Dinge untereinander zustande; und das System kann, je komplexer desto eher, aus seinen (und wären sie nur befürchtet) möglichen Entgleisungen definiert werden; was Schivelbusch aus zeitgenössischen Metaphern ableitet, gewinnt allgemeinere Gültigkeit: Je komplizierter eine technische Apparatur, desto "gründlicher die Destruktion in der Dysfunktion" (8). Damit wird freilich auch jeder Kollaps der Apparatur / Maschinerie, und zwar mit zunehmender Kompliziertheit in überproportionaler Weise, immer gefährlicher. "Je höher deren (der Apparatur) technisches Niveau, umso denaturalisierter das an sie gewöhnte Bewußtsein, umso destruktiver der Zusammenbruch beider." (9) Worin Schivelbuschs Studie am schwächsten ist: hinsichtlich der technikgeschichtlichen Basen, in bezug auf betriebliche Aspekte - worin die entscheidenden Umschwünge im Lokomotiv- und Waggonbau begründet waren, worin die Schwierigkeiten lagen, einen sicheren und vor allem auch für das Personal menschenwürdigen Betrieb abzuwickeln, kurz: in puncto immanenter technischer Probleme, die sich und heute, retrospektiv, als objektive Zwänge darstellen. Am einfachsten läßt sich das hier Gemeinte an einem das Fahrpersonal betreffenden Beispiel darstellen: Die Arbeitsbedingungen am Führerstand einer Lokomotive haben sich eben erst mit dem Übergang von der Dampf- zur elektrischen Traktion entscheidend verbessern lassen, der im Vollbahnwesen allerdings erst im zwanzigsten Jahrhundert technisch und wirtschaftlich praktikabel war und somit bereits außerhalb des Untersuchungszeitraums von Schivelbuschs Buch liegt. Aber das Verständnis für in solchen Fällen dezisive "Zwänge" leidet zumeist an der Unkenntnis technischer Sachverhalte, bei Humanwissenschaftern so häufig konstatierbar - Indizien dafür bei Schivelbusch sind z.B. die Verwechslung von Schiene und Gleis oder von Fahrgestell und Drehgestell (10). Derartige kleinlich erscheinende Einwände ändern kein Jota an den tatsächlichen Qualitäten dieses großartigen Buches, das am überzeugendsten und faszinierendsten dort wird, wo es um die Veränderungen des kollektiven Bewußtseins geht - und darüber hinaus um generelle Aussagen über die Regeln zivilisatorischer Prozesse. "Die Technik ist Ausdruck der äußeren Naturbeherrschung. Mittels technischer Apparaturen (Maschinen) werden die Naturkräfte und -stoffe diszipliniert zu kulturellen d.i. ökonomischen Leistungen. Die gesellschaftlichen Regeln sind die Apparaturen der inneren Naturbeherrschung. Das Individuum wird durch sie so strukturiert, daß es sich in den gesellschaftlichen Kontext einfügt und darin konstruktive Leistungen vollbringt...Die technisch hergestellten Reize sind als die von der äußeren Naturbeherrschung ausgehenden Signale u n m i t t e l b a r e r Ausdruck der Produktivkräfte als die gesellschaftlichen Regeln, welche, wie alle Ideologie, als Funktion der Produktivkräfte sich nach diesen entwickeln. Den Prozeß des sich zivilisierenden Bewußtseins einmal in solch enger Bindung an die Entwicklung der Technik zu beschreiben, verspricht vielleicht nicht für alle historischen Perioden gleiche Fruchtbarkeit, wohl aber für eine von der Technik so durchdrungene, ja überwältigte Epoche wie die der industriellen Revolution." (11) Jene Strukturen und Prozesse also sind es, auf die Transportgeschichte projiziert werden muß, will sie sich nicht beschränken auf die bloße Erzählung technischer Innovation oder unternehmerischer Aktionen. Es hat ganz den Anschein, daß es, wollen wir darüber hinaus - und es kann kein Zweifel sein, daß wir das müssen, um relevante Aussagen machen zu können -, nötig ist, die Orthodoxie hinter uns zu lassen. Die konventionellen Grenzen einer Disziplin versperren hier Zugänge, vermauern den Blick, zerstören die Lust, etwas Neues auszumachen. Der Mut zu interdisziplinären Forschungen (hinter diesem Konzept, das mittlerweile mancherorts zu bloßer Mode verkommen ist, steckt ja ein konkreter Anspruch) ist augenscheinlich Grundvoraussetzung für (Er)Kenntnisse, die über den traditionellen Katalog bürgerlichen Wissens hinausgehen. Merkwürdig, wie deutlich hier wird, in welchem Ausmaß die Forschungsformen die Forschungsinhalte determinieren: je konventioneller die Methoden, welche in der Recherche angewandt werden, desto banaler ihre Resultate. Das erhellt schlaglichtartig aus einer Gegenüberstellung von Schivelbuschs aufregendem Buch mit einer US-amerikanischen Studie über die Geschichte des europäischen Stadtverkehrswesens, die ihrerseits weitestgehend den orthodoxen Mustern von Forschungsweise und Präsentation der recherchierten Materialien verpflichtet ist. Gerade deshalb - so will es scheinen - wird es dieses Buch weitaus leichter haben, sich bei den Lesern, zumal bei den Fachhistorikern, durchzusetzen, weil es gemäß den üblichen Schemata verfährt. Lediglich thematisch fällt das Buch von John P. McKay "Tramways and Trolleys. The Rise of Urban Mass Transport in Europe" aus dem Rahmen des Gewohnten (12). Dadurch alleine stellt es allerdings eine Pionierleistung dar. Sie besteht darin, Themata und Problemkreise gemäß einer gültigen w i s s e n s c h a f t l i c h e n Methode abzuhandeln, kritisch-perspektivisch gewissermaßen, und jene auf diese Weise mit der Aura der Respektabilität auch im akademischen Bereich zu versehen. Dergestalt handelt es sich hier um eine Transferierung: denn was McKay mit den etablierten kritischen historischen Methoden tut, ist freilich früher auch schon, wiewohl eine Spur naiver und wohl auch beschränkter auf den "Liebhaber-" oder "Hobbyaspekt", getan worden; McKay verschiebt also den Forschungsgegenstand "Geschichte des Stadtverkehrs" in die Domäne der reinen Wissenschaftlichkeit - und etabliert ihn damit überhaupt erst. Es war allerdings höchste Zeit. Denn es ist sehr schwer einzusehen, wie man bisher überhaupt glauben konnte, das Phänomen der Urbanisierung, vor allem um 1900, ohne Bedachtnahme auf den öffentlichen Stadtlinienverkehr abhandeln zu können. Das Zentralproblem ist dabei die Einführung der elektrischen Traktion, die etwa zwischen 1890 und 1905 allerorten die animalische ablöste. Wenn man sich nicht an der Terminologie stößt, kann man tatsächlich mit McKay von einer Revolution ("electric streetcar revolution") sprechen. Wie sich diese ausgewirkt hat, ist historisch recht leicht einzusehen, wieso sie sich in dieser Form, gerade zu diesem Zeitpunkt ergibt, sehr viel schwerer plausibel zu erklären. Die Struktur der meisten westlichen Städte, deren systematische Zerstörung in den letzten Jahren so oft und beredt beklagt worden ist, ist ja überhaupt erst durch den elektrischen öffentlichen Verkehr gebildet worden, dessen Entstehung aber nicht einfach durch Rekurse auf Namen wie Sprague, Van Depoele oder Siemens, durch Firmengeschichten von General Electric, Thomson-Houston oder AEG oder die Analyse von Managementsystemen begreifbar wird. Gewiß ist es so, daß Resultate historischer Prozesse, indem sie fortwirken - wir leben eben immer noch mit U- und Straßenbahnen, sehen nun auch wieder ein, daß wir ohne sie, etwa nur mit dem Privatauto, nicht akzeptabel zu leben vermöchten und jedenfalls aller Urbanität verlustig gingen, vom ökologischen Aspekt ganz zu schweigen -, durch ihre Permanenz also, das Verständnis erleichtern und ja zunächst überhaupt das Erkenntnisinteresse fördern bzw. vielleicht erst auslösen. Auch dadurch ist Schivelbuschs Buch überzeugend und gesellschaftsrelevant (indem es fortwirkende Restrukturationen analysiert und expliziert), während McKays Untersuchung in vielem an der Oberfläche zufälliger Quellen zur Entstehung eines neuen materiellen Kommunikationssystems verharrt (indem bloß beschrieben wird, was sich ereignen mußte, um eine Restrukturation auszulösen). Ein zweites: wohl denkt McKay, gemessen an US-amerikanischen wissenschaftlichen Bräuchen, relativ breiträumig - er spricht von technologischen Innovationen, Management und deutet sogar "the impact on society" an -, doch besteht die Relevanz von Schivelbuschs Essay auf der anderen Seite im Mit- und Zusammendenken der disparatesten Disziplinen und Methoden, sodaß ein virtuell totalisierendes Begreifen sich abzeichnet. Demgegenüber läßt McKay erahnen (und befürchten), daß seine Arbeits- und daher Anschauungsweise eine ohnehin schon parzellierende Disziplin - eine Stadtgeschichte - noch weiter aufsplittern wird, sodaß wir im Endeffekt nur noch - ausschließlich untereinander kommunizierende - Transportgeschichte-, Wohnungswesen-, Stadtplanung- etc. -Experten nebeneinander her arbeiten sehen werden. Eine Prognose ist leicht zu stellen, zumal McKays Untersuchung in einem so renommierten Verlag erschienen ist: Transportgeschichte ist die kommende Disziplin, und McKay ist ihr Prophet (13). In gewisser Weise hat die Eisenbahn die Städte einander nahegerückt, und die Tramway hat jede einzelne von ihnen wieder gedehnt - jene hat Distanzen verringert, diese neue geschaffen, gleichwohl alte verkleinernd, jedoch in jedem Fall, urbanologisch-funktional gesehen, neue und unglaublich intensive Integrationen geschaffen. Das Dritteln der Fahrzeiten durch die elektrische Traktion alleine muß enorme Auswirkungen auf das Aussuchen von Wohnquartieren, die Wahl des Arbeitsplatzes oder die Zugänglichkeit der kulturellen Einrichtungen gehabt haben. Das war, im Vergleich mit anderen Faktoren, eine Zäsur par excellence. (Man muß sich an diesem Punkt vor Augen führen, daß die Reisegeschwindigkeiten in nahezu allen großen Städten heute niedriger liegen als vor etwa siebzig Jahren, und übrigens in denen mit Tramwaysystemen - zu den größten gehören Leningrad, Moskau, Budapest, Wien, Mailand und Melbourne - günstiger sind, da sich die Straßenbahn wesentlich leichter vom alles erstickenden Individualverkehr segregieren läßt als etwa der Autobus.) Es ist in McKays Studie interessant zu sehen, wie sich vor unseren Augen ein völlig neuer, prestigeträchtiger Quellenkanon herausbildet, der gleichwohl dem traditionellen strukturell völlig entspricht. Präziser: bei McKay hat er sich bereits verfestigt, denn seiner Studie sind ja bereits andere, partiellere, vorausgegangen, sodaß die seine nun autoritativer auftreten kann. Darüber hinaus ist die Herausbildung einer eigenen Subdisziplin "Transportgeschichte" in den USA bereits seit einigen Jahren in vollem Gange, und McKays Untersuchung stellt einen ersten Kulminationspunkt dar, den ersten allerdings, der sich auf europäische Geschichte bezieht. Es gibt etwa ein Journal of Transport History, das McKay natürlich herangezogen hat - aber beachtlicher ist, daß er auch die "Zeitschrift für das gesamte Local- und Straßenbahnwesen" und die renommierte "Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins" herangezogen hat. Darüber hinaus scheint er der erste zu sein, der die einschlägigen Materialien in den Pariser Archives Nationales benützt hat, ja, sogar die Archive des Crédit Lyonnais, der auf dem Tramwaysektor als Finanzier aktiv war, aber dessen Direktoren vor allem scharfe Beobachter der Entwicklung waren. Trotzdem bleibt nach dem Durchstudieren von McKays Buch ein schales Gefühl. Er hat alles getan, was man von einem Historiker verlangen kann (und was er hinfort von sich selbst verlangt), aber dennoch - oder gerade deshalb? - bleiben einige der wichtigsten Probleme auf der Strecke. Eine merkwürdige Scheu, weitergehende Aussagen zu machen, die über das letztlich eben doch zufällige und restringierte Quellensubstrat hinausgehen, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und wird besonders im Schlußkapitel "Conclusions" sowie im Kapitel über die Tramway-Arbeiter und in allen Passagen über technologische Fragen deutlich. Umgekehrt werden dort die überzeugendsten Akzente gesetzt, wo es um Firmen und ihre Unternehmungen geht, im traditionellen wirtschaftsgeschichtlichen Bereich also, hinsichtlich des "entrepreneurship". Hier ist vor allem für das Paradigma Frankreich Beträchtliches geleistet, das nur unter den technikgeschichtlichen Defizienzen leidet. Zur Skizzierung von Hypothesen, zum Formulieren von Theoremen ist McKay unser Mann nicht. Das ist bei Pionierarbeit gewiß nicht von Vorteil, wenngleich die Schmälerung ihres Wertes nicht so sehr dem individuellen Autor anzulasten ist als vielmehr einem Wissenschaftssystem, das nur äußere Kriterien völliger Nachweisbarkeit gelten läßt, die eben in den Frühstadien von Forschungssubdisziplinen nicht so recht gelingen mag. Und wie sehr sich da der Historiker, der für all diese Dinge nicht geschult ist, auf unsicherem Terrain bewegt, zeigen die Lapsus und Fehler, die McKay passieren. Manche innovatorische Schübe etwa übersieht er (z.B. die Einführung der Rillenschiene durch Loubat 1852 (14) oder die Tatsache, daß die Elektrische ja deshalb so brauchbar war, weil die Motorwagen die ersten vollwertigen Zweirichtungsfahrzeuge waren, also nicht gewendet zu werden brauchten (15)). Es stimmt nicht, daß Thomson-Houston die Pariser Tramways "unified" hat (16), und es ist auch nicht richtig, daß in Paris die Fahrleitung überall verboten, daher nur Unterleitung zulässig war (17). Übrigens wirkt hier die angelsächsische Unsitte, alles und jedes ins Englische zu übersetzen, besonders deplaciert und geradezu komisch. Ist für Anglophone Compagnie Générale des Omnibus wirklich so viel unverständlicher als General Omnibus Company? Und warum Nord-Parisien mit North Paris übersetzen? Derlei kann natürlich mißverständlich werden; es ist nicht leicht herauszufinden, daß McKay mit Left Bank Tramways Company die Compagnie électrique des Tramways de la Rive Gauche meint (18); ähnlich wäre C e t t e in der modernen Schreibung S è t e wiederzugeben (19). Neben relativ belanglosen Fehlern (die Wiener Tramway geht auf das Jahr 1865, nicht 1868 zurück (20) gibt es auch in technikgeschichtlicher Hinsicht weittragendere Irrtümer: So ist der Beiwagenbetrieb keineswegs universell bis zum heutigen Tag, und das Festhalten am bloßen Motorwagenbetrieb (doppelstöckige Waggons) ist sogar einer der Gründe für die Aufgabe praktisch aller britischen Tramwaybetriebe, ganz im Gegensatz zum deutschen Beispiel, wo in der Tat das Prinzip der Zugbildung immer vorherrschte (21). Grundsätzlichere Einwände könnten sich auf offenkundige Widersprüche und Fehler beziehen. Es ist durchaus fraglich, ob man die elektrische Straßenbahn so einfach als (US-)amerikanische Innovation bezeichnen kann (22); und es ist völlig unsinnig, "the arrival of the electric tramway with ist ‘improvements’ ... (als) fatal departure in the wrong direction, and particulary in the direction of sprawling suburbs and fragmenting cities" zu klassifizieren (23). Übrigens steht es auch in offenem Widerspruch zu dem, was McKay selbst zehn Seiten später über Brüsseler Villenvororte sagt (24). Alle Einwände aber ändern nichts daran, daß eine baldige Übersetzung der McKayschen Studie außerordentlich wünschenswert wäre; das Buch könnte den Wirtschaftshistorikern Anregungen geben und neue Querverbindungen zur Technikgeschichte nahelegen - vor allem das gute Kapitel über die "neue technisch-ökonomische Matrix" läßt Interessantes anklingen (25) -, und mancher Sozialhistoriker sähe sich vielleicht in der Folge veranlaßt, dort weiterzudenken, wo McKay aufhört. Ohne Zweifel vermag Transportgeschichte erst dann nicht nur interessant sondern relevant zu werden, wenn es gelingt, sie nicht als neuen, zusätzlichen Teilbereich additiv und isoliert in den Fundus historischen Wissens einzubauen, sondern das Gegenteil zu versuchen: überdies noch Methoden und Ergebnisse anderer Disziplinen hereinzuholen, und, etwa Schivelbuschs Beispiel folgend, eine sachliche wie zeitliche synoptische Integration anzustreben. Das Gelingen dessen erscheint eher zweifelhaft, und in der Zwischenzeit kann man auf jeden Fall darangehen, sich in jener Literatur zu orientieren, die man als Historiker üblicherweise wohl allzu leichtfertig beiseite zu schieben in Versuchung kommt. Eine gewisse Tendenz, alles, was nicht den Gestus purer Wissenschaftlichkeit reproduziert, von vornherein in den Bereich der Trivialität abzuschieben, ist dabei unverkennbar. Aber es gibt durchaus seriöse Eisenbahn- und Straßenbahnbücher; Der Enthusiasmus braucht der Information nicht entgegenzustehen, er kann sie eher erleichtern. Merkwürdig ist, daß praktisch alle diese Publikationen wesentlich historisch verfahren und fast niemals nur eine reine Gegenwartsanalyse leisten; offensichtlich versuchen ihre Autoren, daraus eine Art übergeordneter Legitimation zu ziehen. In mancher Hinsicht sind viele dieser Bücher, was die Sauberkeit der Arbeit, ihre Genauigkeit und ihr Engagement anbelangt, fachhistorischen Untersuchungen mindest gleichwertig, oft eindeutig überlegen. Sie vermögen sich auch auf große Vorbilder hin zu orientieren: So hatte etwa die legendäre offiziöse österreichisch-ungarische Eisenbahngeschichte, luxuriös ausgestattete fünf Bände (26), den historischen Aspekt in keiner weise vernachlässigt (27) und auch Lartilleuxs vielbändige famose, wiewohl ausnehmend schwer beschaffbare "Géographie universelle des Transports" vernachlässigt die historische Dimension in keiner Weise (28). Bis vor wenigen Jahren hat sich - egal ob es sich um offiziöse Unternehmungen wie die Lartilleuxs oder um die Bücher der Enthusiasten für Enthusiasten gehandelt hat - eine eindeutige Dominanz der Eisenbahnbücher gezeigt, mit Konzentration auf die Dampfeisenbahn, gemäß einem schwer zu erklärenden nostalgischen Syndrom, das vielfach an die Stelle des Historischen tritt - wäre nicht tatsächlich Nostalgie die Sehnsucht nach dem, was nie existiert hat? In letzter Zeit allerdings mehren sich die Bücher, die vor allem dem Stadtverkehr Aufmerksamkeit schenken; die Vermutung liegt nahe, daß dies nicht zuletzt auf ein neues, wenngleich oft nur naives, urbanes Verständnis zurückzuführen ist, welches vor allem in der Überzeugung gipfelt, humane Städte vermöchten nur mit guten öffentlichen (und elektrisch betriebenen!) Verkehrssystemen zu existieren, gingen jedoch bei selbst nur indirekter Bevorzugung des Individualverkehrs mit Sicherheit zugrunde. (En passant sei auf eine bedenkliche terminologische Merkwürdigkeit aufmerksam gemacht: "Individualverkehr" konnotiert Positives, wohingegen die pejorative Note im Wort "Massenverkehr" offenkundig ist (29).) Wie auch immer: das implizite Verdikt, das sich aus dem Ignorieren der "Fan-Bücher" durch die Historiker ableiten läßt, schlägt auf diese selbst zurück, denn es geht ja darum, von den Quellen her sollten wir es wissen, "Dinge zum sprechen zu bringen", also sie für seine Zwecke zu aktualisieren. Einer solchen Aktualisierung steht jedenfalls seitens der "Enthusiastenbücher" absolut nichts im Wege. Selbst jene, die fast ausschließlich ohne Text und hauptsächlich mit Bildern operieren (30), besitzen den Vorzug, dem Historiker sehr anschauliche Einblicke in eine visuell längst nicht mehr revozierbare Vergangenheit zu vermitteln. Alte Aufnahmen von den Verkehrseinrichtungen Wiens legen überdies den Schluß nahe, daß es - wenigstens im Hinblick auf das Verkehrswesen - um die großen Städte vor zwei, drei Generationen besser bestellt war als heute, trotz der auch hierzulande langsam sich abzeichnenden Tendenzwende. (Das bedeutet keinerlei Verherrlichung des Vergangenen: Die Arbeitssituation des Fahrpersonals, der tramway-workers, wie McKay sie nennt, ist heute in vielem eher schlechter als ehedem, weil bei immer noch gefahrenen 9-Stunden-Schichten (Überstunden!) heute noch der enorme, aus dem aufgeblähten Verkehr resultierende Stress hinzukommt.) Vor allem in den USA ist inzwischen, fast unbemerkt von den traditionellen Historikern, eine quantitativ kaum mehr überblickbare Literatur zur Geschichte des Verkehrswesens entstanden (von "local enthusiasts" geschrieben), die sukzessive in regionalgeschichtliche Betrachtungen Eingang gefunden hat. Eine Titelaufzählung wäre hier unmöglich, im übrigen insoferne fragwürdig, als die US-Transportsysteme mit den europäischen nur bedingt vergleichbar sind. Aber auch in Frankreich und Deutschland hat es in den letzten Jahren einen Boom an Transportliteratur gegeben, die sich primär an "Verkehrsamateure" wendet (und, wir wiederholen es, wohl deshalb für Historiker nicht achtbar genug ist). Hervorzuheben sind in erster Linie zwei Bücher von Jean Robert, das eine über Pariser Tramways, das andere über den öffentlichen Verkehr in allen französischen Städten (31), beides nicht nur sehr schön ausgestattet, sondern mit außerordentlicher Akribie gearbeitete Bücher von hohem Informationswert. Die Geschichte der österreichischen Verkehrsträger ist besser aufgearbeitet, als man meinen möchte - in erster Linie das Verdienst des auf diesem Gebiet sehr rührigen Slezak-Verlags in Wien (32). So ist etwa bereits vor zehn Jahren von J.O. Slezak selbst eine ansprechende Studie über "Die Lokomotiven der Republik Österreich" erschienen, mit zahlreichen Tabellen, Abbildungen und Typenbezeichnungen (33). Während der Verlag auf der einen Seite diesen Publikationsstrang stets weiter verfolgte, rückte er zum anderen Fragen der Stadtverkehrsgeschichte immer mehr ins Zentrum seines Programms. Vor allem für den Wiener Bereich ist durch vier Bücher (34) die Transportgeschichte so weit aufbereitet, daß sie ohne große Schwierigkeiten integriert werden könnte in eine generelle Stadtgeschichte. Ein 1972 erschienenes Buch über die Wiener Tramway (35) verfügt über einen außerordentlich instruktiven Textteil, an den sich ein hübscher Bild- und Typenskizzenteil, welcher allerdings von dem in den beiden oben genannten (36) Schweizer Publikationen abgedruckten qualitativ übertroffen wird, anschließen. In dem sorgfältig gearbeiteten Textteil, der der Gefahr, in vordergründiger Weise bloß den Enthusiasten zufriedenzustellen, klug auszuweichen versteht, gibt es auch eine Reihe von Hinweisen auf in Historikerkreisen kaum bekannte Literatur. Ein Jahr später erschien ein Buch über die Badner Bahn, wiederrum ein Jahr darauf über die Dampftramways im Südwesten und Norden/Nordosten Wiens, die, gewissermaßen nach der Peripherie hin, das Bild des Wiener Stadtverkehrs abrunden (37). Im vorigen Jahr schließlich kam ein Buch über die "Straßenbahn in Graz" heraus, das diese Tradition des Verlags weiterführt, allerdings mehr als das gleich ausgestattete Buch über die Wiener Tramway innerbetriebliche Aspekte akzentuiert (38). Eine Gefahr bei allen derartigen Büchern ist unübersehbar: Allzu leicht gerät der Enthusiasmus zu einer Eindimensionalität der Anschauung, die den Eindruck erwecken kann, alles in einer Art neutralen Interesses einzuebnen, ohne Bedachtnahme darauf, was etwa der G e b r a u c h von Transporteinrichtung indiziert. Aufs Prinzipielle zurückgeführt, ist das eine Problematik, die dem Historiker nicht unbekannt ist: die Illusion der Wertneutralität von Anschauung und Darstellung, dagegen helfen auch verbale Versicherungen nichts. Gleichwohl ist es schwer zu sehen, wie man historisches Interesse - eben auch an Transportsystemen - in jeweils konkreten Fällen konsequent auf jene "totale" historische Realität projizieren könnte, die nur allzu oft, auch bei Fachhistorikern, auf der Strecke bleibt. So wird man vielleicht bei einem Buch wie "Lokomotiven ziehen in den Krieg" (39) nichts weiter tun können, als mit einem gewissen unguten Gefühl die dokumentarische Kraft der Bilder auf sich wirken zu lassen, jedoch dessen immer eingedenk, wie gefährlich nahe das Abgleiten in eine falsche Faszination liegt. Die Anschaulichkeit von Bildern, schwarz-weiß, zweidimensional und in bequemer Buchform, macht, im gleichen Maß wie sie bei den einen Erinnerungen abruft, bei den anderen Vorstellungen erweckt, vergangenes Geschehen auch platt und stumpf, wegstellbar ins Bücherregal, läßt die Komplexität der Prozesse und Strukturen vergessen, verblassend bilden sie dann nur mehr den grauen Hintergrund, von dem sich die pittoreske Farbigkeit eines zum Hobby stilisierten Detailbereichs, von seinen Zusammenhängen kupiert, auf eindrucksvolle Weise abhebt. Das ist freilich die Gefahr bei jeder Spezialisierung, die sich umgekehrt für alle empfiehlt, die vermeiden wollen, als Dilettanten apostrophiert zu werden. Insoferne wäre es unbillig, läppische Arroganz der diensttuenden Wissenschaftler, die Anstrengungen der "Enthusiasten" abschätzig zu beurteilen. Denn nicht zuletzt die Historiker selbst haben ja durch komplizierte Ein- und Ausschlußverfahren bestimmt, was zum Kanon gehört und was nicht. Und je mehr sie ihre Disziplin untergliedern in immer noch mehr Teildisziplinen, desto schwerer wird zweierlei: etwas nicht Integriertes noch hereinzuholen und zu verarbeiten, und, zweitens, den Anschein aufrechtzuerhalten, man könne von der Warte der Wissenschaftlichkeit herab darüber befinden, was sie ausmache und was nicht - z.B. ob eben Transportgeschichte, und in welcher Form, dazugehöre oder nicht. Es wird vielleicht sogar jenen, die selbst bei Vorhandensein passabler öffentlicher Verkehrsmittel nicht auf den Gedanken kommen, diese statt des Privatautos zu benützen, aufgefallen sein, daß vom - euphemistisch so genannten - Individualverkehr hier nicht die Rede ist. Aus gutem Grund: er erfährt ohnehin mehr als genug Publizität durch Medien, Reklame etc. Historisches Denken soll aber gerade auch dazu dienen, Verdrängtes wieder im kritischen Bewußtsein zu installieren, dann wird es eventuell zur Basis von Neugierde und Motivation - die "forschungsleitenden Interessen" bedürfen einer Art Initialzündung, eines Impetus. Aber ohne Zweifel wird eine umfassende Transportgeschichte jede Form des Transportwesens - zu Wasser, zu Lande, in der Luft - zu berücksichtigen haben. Man wird dabei so manchen Zusammenhangs gewahr werden - so bewies etwa der Snell-Report von 1974 dem US-Abgeordnetenhaus, daß die US-Straßenbahnbetriebe sich nicht auflösten, weil sie obsolet waren, sondern weil sie von der Automobilindustrie, insbesondere von General Motors, systematisch zugrundegerichtet wurden. Die "Zwangsläufigkeit" dieses geschichtlichen Prozesses besteht derart allenfalls kraft der Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Expansion und Konkurrenz (die Elektrofirmen etwa unterlagen auf diesem Sektor den Erdöl- und Automobilfirmen). Auf diese Weise vermöchte dann (Transport-)Geschichte vielleicht auch zur Demystifikation des "Individualverkehrs" beizutragen: Es wohnt ihm nicht die Freiheit inne, sondern nur die Illusion der Freiheit. Er hat sich nicht wegen technischer oder (materiell-)kultureller Überlegenheit durchgesetzt, sondern im freien Spiel von Innovation, Kommerz, Suggestion und Octroi. Um eine bestimmte Figur, ein bestimmtes System, bilden zu können, müssen die Elemente, deren es dazu bedarf, immer schon präexistieren. Es bedarf also dann nur noch der Montage dieser Elemente nach bestimmten sozial verbindlichen Kriterien - sohin geht es um die K o m b i n a t o r i k, darüber hinaus um die Substitutionsprozesse, die gemäß Neukombinationen stattfinden. Weder der Wolkenkratzer noch der Lift "waren zuerst da"; und die Tramway mußte nicht in dem Sinn der Großstadt vorausgehen: Es bedurfte des Rades und der Schiene ebenso wie des Elektromotors, des Arbeitskräftepotentials ebenso wie der Städte, die groß genug waren, um überhaupt ein Verkehrsbedürfnis entstehen zu lassen. Das Zusammenfügen all dieser (und zahlloser anderer) Komponenten zu einem E n s e m b l e ergibt "Innovation". Die Metapher des Rangierbahnhofes illustriert es schön: Mit prinzipiell immer den gleichen Waggons und Loks werden auf dem gleichen Gleisssystem immer "neue" Züge zusammengestellt. Die Innovation - und der "Fortschritt" - ergeben sich erst, wenn dezisive Elemente zusätzlich auftreten und damit alte obsolet machen: Moderne Leit- und Steuerungssysteme sind dabei, den Rangierer überflüssig zu machen - und das hat, auf längere Sicht, gewiß auch sozialhistorische Konsequenzen. |
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Anmerkungen
(aus: Zeitgeschichte 7 (1979/80), S. 218 ff.) © Univ.-Prof. Dr. Georg Schmid |
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